Aktenlage zunächst zweideutig
Aus den Untersuchungen ergab sich hinsichtlich des Umgangs der Senatsverwaltung mit NS-Belastungen ein durchmischtes Bild. Die ermittelten Zahlen für die NSDAP-Mitgliedschaft liegen sehr deutlich unter den Ergebnissen der „Akte Rosenburg“. Hier schließen sich Forschungsfragen für das weitere Projekt an. Wurde bei der Personalauswahl in Berlin stärker als in Bonn darauf geachtet, dass ehemalige Parteimitglieder die Stellen in der Justizverwaltung nicht dominierten? Oder hatte Berlin von vornherein weniger Bewerber mit NS-Vergangenheit? Zogen die ehemals parteiangehörigen Juristen die Tätigkeit im Bundesjustizministerium der Berliner Verwaltung vor? Oder haben belastete Personen ihre Vergangenheit systematisch verschwiegen?
Die Antwort auf diese Fragen wird dadurch erschwert, dass Unterlagen über abgelehnte Bewerber soweit ersichtlich nicht überliefert sind. Auffallend ist indes, dass in einer nennenswerten Anzahl von Fällen die Vergangenheit von beschäftigten Personen bei der Einstellung oder während deren Amtszeit Anlass für Vorwürfe oder Hinweise auf Benachteiligungen gab, die mehr oder weniger akribisch untersucht wurden. Dies betrifft nicht allein die Belastung durch eine NS-Parteimitgliedschaft, sondern auch eine Sondergerichtstätigkeit oder ähnliches.
Leichte Überraschungen beim Altersdurchschnitt auf der Leitungsebene
29 Personen begannen ihre Tätigkeit in der Berliner Justiz/-verwaltung zwischen 1945 und 1949, also zu einer Zeit in der die hoheitliche Gewalt in Berlin noch unmittelbar in den Händen der Alliierten Kommandantur lag. Alle anderen hier untersuchten Personen wurden in den 1950er bzw. 1960er Jahren von der Senatsverwaltung für Justiz übernommen. Bezogen auf vier stichprobenartig ausgewählte Vergleichsjahre (1951, 1958, 1963, 1974) betrug der Altersdurchschnitt im höheren Dienst 38,63 Jahre und in den Leitungspositionen 47,16 Jahre.
Ein erster Vergleich mit den Ergebnissen der „Akte Rosenburg“ deutet darauf hin, dass das Personal der Berliner Senatsjustizverwaltung geringfügig jünger war als dasjenige des Bundesjustizministeriums. Dies mag darauf beruhen, dass die vergleichbaren Positionen in der Bundesverwaltung etwas exponierter waren als auf Landesebene. Dem entspricht die in der Senatsverwaltung etwas geringere Anzahl von promovierten Mitarbeitern. Zu beachten ist der Einfluss von der nach 1945 stattfindenden Umgestaltung der Berliner Universitätslandschaft auf die Zahl der Promotionen. Weiterhin fällt auf, dass nur 7 Mitarbeiter zwischen 1933 und 1945 promoviert wurden.
Im Übrigen entsprach das Alter den zu erwartenden Ergebnissen, gemessen an üblichen Laufbahnbeförderungen. Allerdings scheint eine größere Anzahl von Mitarbeitern kriegsbedingt die juristische Ausbildung später abgeschlossen zu haben, als es sonst nach ihrem Lebensalter nahegelegen hätte.
Insgesamt wurden 75 Mitarbeiter vor 1920 geboren und gehören damit Jahrgängen an, die in der NS-Zeit bereits berufliche Positionen erreichen konnten und damit für die rechtshistorische Untersuchung besonders relevant sind.
Insgesamt waren 131 der 158 Mitarbeiter des höheren und gehoben Dienstes Volljuristen. Vor 1933 haben 24 ihr 2. Staatsexamen abgelegt, zwischen 1933 und 1945 18 Personen, nach 1945 bis 1959 41 Personen und nach 1959 32 Personen. Zu weiteren 24 Personen waren keine Angaben in den Personalakten enthalten.
Bei den Personen, denen Daten zugeordnet werden konnten (126 von 131 Volljuristen), legte die deutliche Minderheit der Personen (32 Personen) ihr Examen vor 1945 ab. Die Mehrheit der Personen (83) begann ihre berufliche Laufbahn erst nach 1945. Damit konnten sich etwaige Belastungen der Personen vornehmlich auf Parteimitgliedschaften beziehen; Schlüsselpositionen während der NS-Zeit kamen qua Alter noch nicht in Betracht. Vor diesem Hintergrund beziehen sich Entlastungszeugen in entsprechenden Entnazifizierungsverfahren besonders auf die Studienzeit und dortige Äußerungen der Betroffenen. Viele Juristen waren zudem von der Unterbrechung ihres Studiums oder ihres Referendariats durch den Ausbruch des 2. Weltkriegs betroffen. In diesem Zusammenhang stehen auch die in den Akten häufig anzutreffenden Übergangstätigkeiten- zumeist in kleineren und mittleren Betrieben- welche keinen Bezug zur weiteren beruflichen Laufbahn haben.
Mehrfach wurden (im Zeichen des Kalten Krieges) kommunistische Aktivitäten in die Personaldiskussionen eingebracht.
Spätere Mitarbeiter der Senatsverwaltung und der Justiz verließen ab 1950 die DDR und bewarben sich in Berlin als „anerkannte Flüchtlinge“ um eine Anstellung. Erwartungsgemäß waren die Bewerber darum bemüht, sich selbst vom DDR-Regime abzugrenzen, etwa indem sie bei der Bewerbung ihre Eigenschaft als politischer Flüchtling oder – wie z.B. Gerhard Voigt (geboren 21.08.1911), Gerhard Sadler (01.02.1922) und Kurt Zabel (geboren 12.08.1901) – ihre Gegnerschaft zum SED-Regime hervorhoben.
In diesem Zusammenhang stellt sich daher die weitergehende Frage, wie mögliche DDR-Verstrickungen im Verhältnis zur NS-Vergangenheit bei der Personalpolitik der Senatsverwaltung für Justiz gewichtet wurden. Die erste Auswertung der Akten legt nahe, dass die Abgrenzung zum DDR-Regime wichtiger war als die Abgrenzung zur NS-Vergangenheit der Bewerber und dass die Personalpolitik auch auf diese Weise eine Kontinuität befördert haben könnte. Die Senatsverwaltung achtete darauf, sich gegen eine mögliche Unterwanderung durch die DDR abzusichern. Dementsprechend oft wurden die aus der DDR stammenden Bewerber nicht nur hinsichtlich ihrer NS-Vergangenheit durch Abfragen beim Berlin Document Center kontrolliert, sondern auch Anfragen beim 1949 gegründeten „Untersuchungsausschuss Freiheitlicher Juristen der Sowjetzone“ hinsichtlich ihrer möglichen politischen Verbindungen zur DDR gestellt. Wo eine derartige Verstrickung zu vermuten war, wurde auch schnell die politische Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit des Bewerbers bzw. Mitarbeiters hinterfragt.